Malerei gegen Grenzen in einer NGO auf Lesbos

Lesbos – Woche 3: Licht im Dunkeln

Start

Unsere dritte Woche begann wie gewohnt: Lebensmittellieferungen annehmen, alles ordentlich verstauen und die Foodbags entsprechend der Nationalitäten befüllen.

Auch dieses Mal wollte Ben mich immer mit einem „No, no go in the back Celia“ verscheuchen, wenn ich die Lebensmittelladungen annehmen wollte. Leichtere Dinge hat er mir dann mit einem augenzwinkernden „Now you can help“ übergeben. Mittlerweile ist dieses Hin und Her aber eher ein Spaß zwischen uns.

Nachmittags habe ich dann wieder Villy bei ihrer „women empowerment“ Sitzung begleitet. Jetzt arbeitet sie mit zwei neuen Gruppen. Die eine Gruppe hatte heute ihre erste Sitzung. Weil die Frauen große Probleme hatten, geregelt aus dem Camp zu gelangen, haben sie sich eine nach der anderen heimlich an der Polizei vorbeigeschmuggelt. Auch das kommt wohl häufiger vor.

Neben dem erstmaligen Kennenlernen und Vorstellen ging es auch um die Geschichte der Frauen und was für Aktivitäten sie gerne mögen. 

Die Gruppe war groß und dementsprechend hat es lange gedauert, um die Fragen ausführlich zu beantworten. Villy möchte, dass zwei der Frauen an der Mittwochsgruppe teilnehmen, damit jeweils nur sechs Teilnehmerinnen gleichzeitig vor Ort sind. So gibt es mehr Zeit, jeder einzelnen Frau zuzuhören. 

Gruppensitzung der Frauen
„women empowerment“ Sitzung am Montag

Besonders eine Frau, die erzählte, dass sie einen Sohn bei einem Arbeitsunfall in der Türkei, ihren Mann und jüngsten Sohn im Camp verloren hat und danach mit starken Depressionen und selbstverletzendem Verhalten zu kämpfen hatte, bekam natürlich viel Zuwendung unsererseits geschenkt. 

Sie befindet sich jetzt aber auch in psychologischer Einzelbetreuung und fühlt sich schon viel besser.

Die anderen Frauen, Villy und ich natürlich auch, konnten uns ihren Verlust und den Schmerz überhaupt nicht ausmalen. Es schien auch absolut unangebracht, zu versuchen, diese Frau mit irgendwelchen Floskeln aufzubauen. 

Viele der Frauen haben auf die Frage, was sie gerne mögen, „Alleinsein“ geantwortet. Bei dem Mangel an Ruhe und Privatsphäre vor fremden Menschen, geschweige denn der eigenen Familie im Camp auch absolut verständlich.

Sie haben auch erzählt, wie viele „rejections“ sie und ihre Familie bereits erhalten haben. Teilweise junge Frauen, die alleine oder mit ihren kleinen Kindern hier sind und schon zwei oder mehr rejections erhalten haben – Ich konnte das gar nicht nachvollziehen… Ich meine, wie schutzbedürftig muss man bitte noch sein, um Asyl zu bekommen?  

Aber natürlich ist das nicht so einfach. Für die Frauen und ihre Familien tut es mir nur unglaublich leid, weil sie gar nicht wissen, wie, wann und ob es für sie weitergeht. Dieses ewige Warten, Hoffen und dann wieder und wieder enttäuscht werden muss schrecklich sein. 

Dazu kommt der Zustand im Camp. Das alles mache sie krank, hat eine Frau berichtet. 

So haben sie alle ihre emotionalen Geschichten erzählt, die alles andere als fröhlich waren, haben aber auf die Frage, wie es ihnen jetzt in diesem Moment geht, alle mit „happy“ geantwortet.

Tafel mit der Aufschrift "Happy"
aktuelle Gefühlslage der Frauen am Montag

Es tat ihnen gut, offen und ohne Zwang über sich selbst, ihre Emotionen und Wünsche für die Zukunft zu sprechen. Das alles in einer freundschaftlichen und gemütlichen Runde mit Tee und selbst gebackenen Keksen zu tun, bedeutet ihnen viel.

Das hat mich sehr gerührt. Trotz der Umstände suchen und sehen sie das Licht im Dunkeln.


Am Dienstag habe ich den Kindern aus der Stadt wieder Englischunterricht gegeben, während die Fooddistribution am Camp stattfand. Ich wollte sie langsam an das aktive Lesen heranführen, was für sie noch ein großes Problem ist. Anhand von Bild- und Wortkarten wollte ich ihnen veranschaulichen, wie sich die Buchstaben in Worten tatsächlich anhören. Verstanden haben sie meine Intention aber eher weniger. 

Es ist einfach sehr schwierig, ihnen auf Englisch etwas zu erklären, wenn sie zu wenig Englisch sprechen, um mich überhaupt zu verstehen. Zwar wird im Kongo auch Französisch gesprochen, aber französische Erklärungsversuche sind bei ihnen erfolglos. Und Lingala spreche ich nun mal nicht.

Sie haben gemerkt, dass ich irgendwann sehr verzweifelt war, sind dann mit entschuldigendem Blick auf mich zugegangen, haben mich umarmt und gefragt: „teacher, are you okay?“ Ich habe dann gelächelt und mit „Yes, I am okay“ geantwortet. 

Sie können ja auch nichts dafür, dass es nun mal diese Sprachbarriere gibt und sie in ihrer Muttersprache nicht richtig alphabetisiert sind.

Mittags kamen dann einige Familien, die in der Stadt leben, vorbei und haben sich Winterkleidung abgeholt. Darüber freuen wir uns immer sehr, denn dann können wir weitere diverse Kleiderspenden in die freigewordenen Regale auslegen.

Frauen suchen nach Klamotten in den keliderspenden
Stadtbewohner holen sich Winterklamotten bei Siniparxi ab

Nachmittags hat Dona einen Workshop zum Thema „nonviolent communication“ gegeben. Gegenbilder waren der Schakal als angriffslustige und die Giraffe als umsichtige Streitposition.

Dona hat deutlich darauf hingearbeitet, dass die Giraffe das richtige Streitverhalten verkörpert, aber Rouddy hat das bei gewissen Situationen mit einem „Then you will die“ abgetan. Er meinte, manchmal muss man auch ein Schakal sein, der sich wehrt.

Dieses Misstrauen in andere Menschen, worauf diese Äußerung basiert, wird Rouddy durch seine Herkunft vermutlich nicht mehr los. So hat er uns auch erzählt, was für eine Umgewöhnung das bequeme Essenbestellen in Europa für ihn bedeutete. Im Kongo traut man eben niemandem, hat er erzählt. 


Laufen mit den Kindern zur Organisation

Mittwoch hat Rouddy uns kurz vor dem Office abgepasst und gebeten, die Kinder aus dem Camp direkt von der Bushaltestelle abzuholen. Heute waren sie früh dran und dementsprechend auch nicht so viele. Neun Kinder kamen heute zu uns in den Englischunterricht.

Auch mit ihnen wollten wir das Lesen üben. Mit den typischen Begrüßungsfragen im Stuhlkreis haben wir dafür angefangen.

Als das geplante Spiel mit den Bild- und Wortkarten zu unübersichtlich und die Kinder viel zu unaufmerksam wurden, hatte Max dann die gute Idee, sie in Reihen hintereinanderzusetzen und stumpf die Worte vorlesen zu lassen. Das hat besser funktioniert.

Ein älteres Mädchen spricht schon sehr gut Englisch und hat den anderen die Wörter immer vorgesagt. Auch wenn das natürlich nicht böse gemeint war, mussten wir sie ermahnen. Die anderen lernen ja sonst auch nichts.

Das Konzentrationsproblem und die Unruhe der Kinder kann man ihnen aber eigentlich kaum verübeln. Sie genießen einfach keine richtige Lernatmosphäre. Immer kommen neue Menschen zur Organisation und stören den Unterricht oder es wird irgendwo laut gesprochen, telefoniert oder Musik gemacht. Wie soll man sich da auch richtig konzentrieren? Rouddy hat das auch erkannt und möchte dringend etwas daran ändern…

Nach dem Unterricht haben wir ihnen wieder etwas zu Essen verteilt und sie haben sich große Tüten voller Klamotten mitgenommen. Als wir dann an der Bushaltestelle ankamen, haben sie angefangen, die Klamotten anzuprobieren und bei Stoff-Damenbinden gemerkt, dass sie das doch gar nicht gebrauchen können und sie dann ganz schnell hinter sich in den Müll geworfen. Wir haben dann gesagt, dass sie uns die Sachen wiedergeben und nicht einfach wegschmeißen sollen. Andere können die nämlich bestimmt noch gebrauchen.

Das ist sowieso das Problem, wenn sich die Kinder einfach irgendetwas von Siniparxi mitnehmen. Die Hälfte möchten die Sachen eventuell gar nicht haben und schmeißt sie dann weg. Das ist natürlich eine totale Verschwendung. 

Nachmittag war ich wieder bei Villys „women empowerment“ Sitzung. Heute haben wir die zweite neue Gruppe kennengelernt. Dieses Mal waren es nur vier Frauen. 

Zwar ging es um dieselben Fragen, aber wir haben ganz andere Reaktionen als am Montag erlebt. Plötzlich fing eine Frau an zu weinen und war kaum mehr zu beruhigen, als sie eigentlich von etwas erzählen sollte, was sie in der letzten Woche glücklich gemacht hat. Villy und ich waren etwas überfordert, weil sie das natürlich auf Farsi erzählte und Sedighe, die Übersetzerin, erst einmal versucht hatte, sie zu beruhigen, bevor sie für uns auf Englisch übersetzt hat. Es hat sich herausgestellt, dass sie sich große Sorgen um ihren 21-jährigen Sohn macht, der jetzt hier in Mytilini alleine in einem Haus lebt. 

Im Vergleich zu der Geschichte, die wir am Montag gehört haben, erschien das fast schon absurd. Aber auch ein „In Europa ist das normal, auszuziehen und alleine zu leben“ oder „Sei doch froh, dass es ihm und deiner Familie gut geht“, haben sie nicht beruhigt. 

Villy hat dann gesagt, dass sie dankbar für das sein soll, was sie hat, aber sich auch nicht schlecht fühlen soll, wenn sie die Situation mit ihrem Sohn so mitnimmt. Jeder hat eben das Recht, Gefühle zu haben, mögen sie noch so absurd erscheinen. 

Die Frau hat dann gelächelt und sich langsam beruhigt.

Sie pflegen eben eine ganz andere Kultur, was vor allem die Familiennähe betrifft. Da ist das Aus- oder Wegziehen ein sehr großer Schritt, der vor allem die Mütter schmerzt. 

Nach diesem doch emotionalen Gespräch über das Vermissen der eigenen Kinder, was auch die anderen Teilnehmerinnen verspürt haben, kam dann die Frage, wie sie sich in diesem Moment fühlen. Hier waren die Antworten etwas unterschiedlicher als in der vorherigen Sitzung am Montag, aber dennoch positiv. 

Tafel mit Gefühlen beschriftet
Gefühlslage der Frauen am Mittwoch

Eine Teilnehmerin, die ihren aktuellen Zustand als „happy“ bezeichnete, hat das mit „Im Camp habe ich die letzten eineinhalb Jahre fast verlernt zu lachen. Es tut so gut, das hier wieder tun zu können“, begründet.

Da ist mir klar geworden, wie sehr die Frauen diese zwei Stunden in der Woche schätzen, in denen sie aus dem Camp kommen und über alle ihre Erlebnisse und Gefühle sprechen können. Diese Art der Befreiung macht sie glücklich.

Villys Projekt ist wirklich enorm wichtig. Und ich bin so froh, jetzt ein Teil davon zu sein.


Am Donnerstag haben wir eine große NGO nahe dem Camp besucht. „One Happy Family“ (OHF) ist ein Community Center, welches allen Geflüchteten offen steht. Sie können aus dem Camp kommen und es besuchen, wenn ihre „Identification-Number“ das Camp an diesem Tag verlassen darf. Aus dem Camp dürfen die Geflüchteten nämlich entweder mit expliziten „permissions“ (so wie es bei Villys Projekt der Fall ist) oder wenn die letzte Ziffer ihrer Identifikationsnummer an diesem Tag ausgewählt ist, das Camp zu verlassen.

Rouddy hat Max und mich mitgenommen, weil er uns die Anlage zeigen wollte, die er bei seiner Ankunft auf Lesbos mit aufgebaut hat und er an einem Meeting zum Thema „Coordinator of Community Schools“ teilnehmen wollte. 

In dem Meeting haben verschiedene Leitende von Schulen für Geflüchtete über die Rolle eines Koordinators gesprochen, diverse Probleme genannt, die in ihren Schulen auftreten und versucht, Lösungen für diese zu finden.

Ganz so einfach war dies allerdings nicht, da die meisten Probleme mit Disziplin und Pünktlichkeit bei den Lehrkräften und den Kindern zu tun haben.

Max und ich konnten da natürlich auch eher weniger zu beitragen. 

Meeting zum Thema "coordinator" einer Schule bei einer NGO
Meeting zum Thema „Coordinator of Community Schools“

Nach dem Meeting hatte eine Gruppe von Kindern, die lustigerweise von Max‘ und meinen deutschen Mitbewohnerinnen geleitet wird und die mit Rouddy bei Siniparxi geprobt haben, einen Auftritt auf der „open stage“ von OHF. 

Das war ein richtig schöner Moment: Die Kinder waren aufwendig geschminkt und verkleidet, haben getanzt und gesungen. Sie waren so glücklich, dass sie so viele Zuschauer hatten, die um sie herum standen. 

Und ich kann das Gefühl kaum beschreiben, was ich in diesem Moment verspürt habe. OHF liegt hoch auf einem Berg und man hat von der „open stage“ direkt einen Ausblick über das Camp. Im linken Blickfeld das Elend und die Trauer des Camps und im rechten Kinder, die mit so viel Freude und Enthusiasmus tanzen und singen, als gäbe es das Camp nicht.

Auch in diesem Moment gab es wieder diesen Funken Licht im Dunkeln. (Ich habe fast eine Träne verdrückt.)

Danach hat Rouddy uns durch die gesamte Anlage geführt. Überall waren Volunteers anzutreffen, die uns etwas zu OHF erzählen konnten. Hier gibt es Klassenräume in großen, bunten Containern, eine Küche, ein Café, eine eigene Werkstatt, einen Online-Shop (die Geflüchteten können online bestellen, was sie brauchen und es dann natürlich kostenlos abholen), einen „women’s space“, einen eigenen Gemüsegarten, eine Bastelwerkstatt, eine Bibliothek, ein kleines Krankenschwester-Zimmer, ein Gym, einen großen Spielplatz, eine kleine Schneiderei, die „open stage“, eine Töpferwerkstatt, einen Computerraum, einen Basketballplatz, Tischtennisplatten… OHF ist wie eine richtige kleine Stadt.

Viele Volunteers, die wir bereits anderweitig kennengelernt haben, wie Hashmat, haben wir hier angetroffen. Er hat uns die Aufteilung vom Camp erklärt, welches wir von dem Berg aus gut sehen konnten. 

OHF ist eben ein richtiger Aufenthaltsort für viele Geflüchtete. Und super praktisch, weil es nah am neuen Camp ist. Vom alten Camp Moria war es ein einstündiger Fußweg, jetzt vom neuen Camp nur noch zwanzigminütig.

Am Eingang werden Visitor-Pässe und kostenlose Marken für Kaffee und Tee verteilt. Wir wurden auch mit kostenlosem, selbst-gemachten Essen versorgt. 

Eingang mit Kontrolle der NGO
Eingang von OHF

Hauptsächlich ist OHF mittlerweile ein Ort, an dem viele andere Organisationen ihre Programme stattfinden lassen. Es sind also meistens Kooperationen.

OHF musste vor zwei Jahren komplett neu aufgebaut werden, nachdem es von Faschisten abgebrannt wurde. Und dann kam ja 2020 noch der Brand im alten Camp und Corona dazu. Für die NGO nicht einfach.

Aber sie haben es geschafft, diesen Ort wieder gemütlich, freundlich und bunt zu gestalten. Wir waren wirklich begeistert.

Rouddy hat bei vielen der kleinen Gebäude mitgeholfen, diese aufzubauen. Er hat auch die Idee der „open stage“ eingeführt. Er war richtig stolz, uns das alles zu zeigen und hat viele seiner alten Volunteer-Kollegen angetroffen und uns vorgestellt, die uns die Anlage alle sehr freundlich erklärt haben.

Er hat OHF damals verlassen, um RAD Music International zu gründen und ist mit dieser Arbeit und der bei Siniparxi auch sehr zufrieden. Trotzdem kommt er gerne hierher, er nennt es sein „erstes Zuhause auf Lesbos“.

Direkt unter OHF liegt die Organisation „Leave No One Behind“, von der Siniparxi die Lebensmittelspenden erhält. Auch hier hat Rouddy uns herumgeführt. Dort standen vor allem einige Waschmaschinen, da die NGO viele Kleiderspenden bereitstellt.

Wieder bei Siniparxi angekommen, haben Max und ich die Listen und Karten für die Essensausgabe am Freitag vorbereitet und alle Personen hinzugefügt, die letzte Woche neu registriert wurden.

Danach haben wir die Foodbags gepackt. 120 Stück. Diesen Freitag kommen nämlich Haushalte mit einer bis zu zehn Personen.


Am Freitag haben wir morgens die Kinder aus der Stadt unterrichtet. Wir haben ihnen wieder versucht, das Lesen beizubringen. Sie haben sich immer noch schwergetan, aber verstehen langsam, was wir überhaupt von ihnen wollen. Sie werden von Stunde zu Stunde immer besser. Das freut uns zu sehen.

Danach hat Rouddy ein kleines Meeting mit den Volunteers bei Siniparxi veranstaltet, um die Aufgaben der Organisation besser zu koordinieren. Meine „Aufgabe“ ist mittlerweile ganz klar als Lehrerin für die Kinder, aber bald auch für die Volunteers definiert. Max soll mir dabei „helfen“ und sonst vor allem Rouddy bei jeglicher Art von „office work“ unterstützen.

Wir haben auch geklärt, wie wir die Kleidungsausgaben für Bewohner von Mytilini, aber auch Campbewohner organisieren wollen. Die Idee ist, zwei feste Timeslots an zwei Tagen der Woche für die Stadtbewohner einzuführen, an denen sie sich die Kleidung abholen können und über unsere Volunteers, die im Camp leben, wie Hashmat, Kleiderspenden ins Camp zu befördern und diese da zum Abholen bereitzustellen.

Rouddy möchte jetzt einen geregelten Zeitplan haben und vor allem den Unterricht zeitlich klar bestimmen. Die Lernatmosphäre soll künftig nicht mehr gestört werden, so der Plan. Ich hoffe wirklich sehr, dass das mit dem neuen Zeitplan möglich ist. 

Mittags gab es bei Siniparxi dann ganz spontan eine afghanische Geburtstagsparty, von der auch Rouddy nichts wusste. Wir saßen gerade noch an den Listen für den Abend, als auf einmal ein Taxi vor Siniparxi anhielt und sechs Leute mit Kuchen und Geschenken ausstiegen. Es stellte sich heraus, dass ein Afghane, der hin und wieder bei Siniparxi als Volunteer mithilft, heute Geburtstag hatte. Joel war auch da und hat uns dann bei den Geburtstagsliedern auf Farsi, Englisch, Deutsch und Italienisch auf der Gitarre begleitet. Sie haben dann alle ausgelassen gefeiert und Pizza und Kuchen gegessen.

Eine Teilnehmerin und die Übersetzerin aus Villys Sitzungen waren auch dabei und haben mich freudig gegrüßt. 

Am späten Nachmittag haben wir dann mit der Essensausgabe begonnen. Heute verlief es geregelter als letzte Woche. Trotzdem kamen aber noch einige Personen, die nicht registriert waren. Es sind auch wieder viele nicht erschienen, die eigentlich auf den Listen standen. Auch einige, die ich letzte Woche erst neu registriert hatte, sind nicht aufgetaucht.

Genau wie letzte Woche hat eine ältere Frau wieder versucht, noch einen Foodbag für ihre Tochter mitzunehmen, die mit ihrem Kind gerade in Athen im Krankenhaus ist. Das haben wir natürlich wieder ablehnen müssen.

Es begleitete uns eben wieder der Leitspruch aus letzter Woche: Man kann es einfach nicht perfekt planen.

Am Ende haben wir gut 100 der Tüten ausgegeben, die wir vorbereitet hatten und noch weitere „emergency bags“ für alle, die neu registriert wurden.

Um 19 Uhr waren wir dann fertig.

Auf unserem Nachhauseweg hat uns Joel spontan angerufen und gefragt, ob wir Lust hätten, mit ihm und zwei Freundinnen eine Spritztour über die Insel zu machen, da er sich jetzt für 24 Stunden ein Auto gemietet hat.

Wir haben uns am Sappho Square am Hafen getroffen und sind zu fünft nach Kalloni gefahren. Ein kleiner Ort 40 Minuten von Mytilini entfernt. Die beiden Freundinnen waren zwei junge Afghaninnen, von denen eine mit Joel und Rouddy in der Band spielt. 

Es war richtig schön, mit drei verschiedenen Nationalitäten und vier verschiedenen Sprachen in einem kleinen Auto zu sitzen und sich zu unterhalten. Beide junge Frauen sind schon mehrere Jahre auf Lesbos und haben beide ihren Asylantrag schnell genehmigt, einen Ausweis und einen Reisepass bekommen.

Die eine möchte hierbleiben und arbeitet bereits auf Lesbos.
Die andere möchte gerne Musik in Deutschland studieren, wartet damit aber noch, bis ihre Geschwister auch ihre Reisedokumente erhalten haben.

In Kalloni war nicht viel los. Wir haben aber dennoch eine kleine nette Bar gefunden und viel über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in unseren Herkunftsländern und unseren Sprachen gesprochen.

Außerdem haben wir uns noch den Hafen und den Strand der kleinen Stadt angeschaut und sind dort etwas auf und ab gelaufen. 

Auf dem Rückweg bei lauter Musik ist mir so richtig bewusst geworden, was für wahnsinnige Möglichkeiten und Verbindungen Lesbos herstellt und wie schön es ist, mit so vielen unterschiedlichen Menschen aus der ganzen Welt zusammen Zeit zu verbringen. 

Das ist ein richtiges Geschenk. 


Samstag haben Rouddy und seine Freundin uns mit einem Auto abgeholt und sind mit uns ebenfalls über die Insel gefahren. Rouddy hat uns erst durch das alte Camp Moria geführt, wo er selbst gelebt hat. Viel ist davon nicht mehr übrig. Man kann noch Steinmauern erkennen, die die damaligen Shops und Offices der NGOs markieren. Die Natur hat sich allerdings schon wieder viel zurückgeholt. Außer den Stacheldraht. Der ist noch gut zu erkennen.

Auch hat der Brand viele Spuren hinterlassen. Hin und wieder konnten wir alte angesengte Kleiderreste, Kabel oder Wasserflaschen sehen.

Wir haben uns dann auf den Weg nach Agiasos gemacht. Agiasos ist eine kleine Stadt auf einem hohen Hügel und circa eine Stunde von Mytilini entfernt. Auch hier war nicht viel los. Abseits der Sommerzeit, in der viele Touristen die Insel besuchen, scheinen die kleineren Städte leerer zu sein.

Die Stadt besteht aus kleinen, verwinkelten Gässchen, bunten Häusern, orthodoxen Kirchen, vielen Porzellangeschäften und kleinen Cafés und Restaurants. 

Rouddys Freundin hat in einem Restaurant für uns jegliche griechischen Spezialitäten bestellt. 

Beim Essen hat Rouddy uns auch erstmalig von seiner Flucht erzählt. Von seinen zwei Versuchen, seiner Todesangst, seiner Enttäuschung und seiner Hoffnung. 

Und auch wenn das alles andere als eine lustige Geschichte war, hat Rouddy stets gelacht. Als wäre es ein Film und nicht seine Geschichte. 

Er sagt, er schämt sich nicht darüber zu sprechen. Seine Geschichte ist ein Teil von ihm. Er ist daran gewachsen. 

Viele Geflüchtete sehen das anders. Sie wollen nicht über ihre Flucht sprechen und ihre alten Wunden aufreißen. Auch das ist durchaus verständlich.

Als wir durch die Gässchen geschlendert sind, hat eine alte Dame Rouddy freudig begrüßt. Sie führt einen Porzellanladen und jedes Mal, wenn Rouddy in Agiasos ist, besucht er sie und kauft ihr etwas ab. Sie hat uns einen Apfel geschält und Rouddy gebeten, ihn mit „unseren Freunden“ zu teilen. Er nennt sie liebevoll seine „grandma“.

Weiter zurück Richtung Auto hat Rouddy auch noch eine weitere Bekannte angetroffen, die er aus seiner Zeit im Camp kannte. Sie hat ihn damals das erste Mal nach Agiasos gebracht und arbeitet jetzt im Asylamt.

Nach dem Agiasos-Besuch, den wir am 14. November bei einem berühmten Kastanienfest in der Stadt wiederholen werden, haben wir uns in Panagiouda, nördlich von Mytilini (sie ist die nächste Stadt am aktuellen Camp), in eine Bar gesetzt. In der gleichen Bar haben wir auch Dona mit zwei Kollegen angetroffen. Die Insel ist auch wirklich klein.

Auch dieser Tag war richtig schön. Wir haben Rouddy mal ganz unabhängig von der Arbeit kennengelernt, über sehr persönliche Dinge gesprochen und einfach eine schöne gemeinsame Zeit gehabt.

Die beiden möchten noch weitere Ausflüge mit uns machen, um uns die Insel zu zeigen. Da freuen wir uns schon sehr drauf!