Kinder laufen über den Bürgersteig

Lesbos – Woche 2: Manchmal muss man einfach improvisieren

Start

Montag starteten wir wieder mit der Vorbereitung der Foodbags für die Menschen im Camp.

Das hieß für uns: Essenslieferungen annehmen, sortieren, die Tüten mit diversen Lebensmitteln füllen und dabei wie immer alles genauestens abmessen.

Wir haben auch noch „Hygiene-Tüten“ mit Shampoo, Zahnbürsten, Zahnpasta, Seife und Masken gepackt, welche auch an die Menschen aus dem Camp verteilt werden sollten.

Abends waren wir wieder zum „group meeting“ eingeladen. Dieses Mal hat ein Brite für uns übersetzt. Das Hauptthema war das Problem, dass Geflüchteten, deren Asylantrag genehmigt wurde, im Camp das Essen verwehrt wird. Es soll wohl als ein indirekter Ansporn zu verstehen sein, das Camp zu verlassen und anzufangen, zu arbeiten. Das ist aber natürlich leichter gesagt als getan und deshalb möchte Siniparxi diese Leute bei der Lebensmittelverteilung nun priorisieren. 


Dienstag durfte ich mit zum Camp fahren und bei der Lebensmittelausgabe helfen. Auch dieses Mal verlief alles sehr geordnet, schnell und friedlich. Die Verteilung war nur für Afghanen und alle, die auf unserer Liste standen, sind auch erschienen. Sie haben eine Karte vorgezeigt, die ihren Namen, das Datum der Ausgabe, ihre Zeltnummer, einen Stempel und auf der Rückseite das Logo von Siniparxi zeigte. 

Lebensmitteltüten bei der Essensausgabe am Camp auf Lesbos
Fooddistribution am Camp

Nach der „distribution“ haben wir wieder mit den Kindern aus der Stadt Englischunterricht gemacht. Wir haben festgestellt, dass es ihnen noch sehr schwerfällt, zu lesen, obwohl sie schon schreiben können. Die Wochentage haben sie eigentlich nur auswendig wiedergegeben und hatten auch da in der Unterscheidung der Tage große Probleme. Da müssen wir uns noch etwas einfallen lassen…

Kind schreibt die Wochentage in ein Heft
Wochentage im Englischunterricht

Nazari war heute nicht in der Organisation. Er hatte einen Termin, um einen neuen Asylantrag zu stellen, ein „Interview“, wie sie das hier nennen. Mittwoch hat er uns erzählt, dass er von 6 Uhr morgens bis 17 Uhr nachmittags gewartet hat, aber nie drangekommen ist. Das war wohl nicht das erste Mal, dass er nicht drangekommen war. Er will es nächste Woche wieder versuchen.

Nachmittags hatten wir wieder „leadership class“ bei Dona. Es ging um das Erkennen und Wertschätzen seiner eigenen Qualitäten. Das fiel den teilnehmenden Afghanen gar nicht so leicht.

Da ich nachmittags von Villy, einer Teilnehmerin des Sniparxi „councils“, die aber selbst in einer anderen NGO arbeitet, zu einem „women empowerment“ Workshop für Frauen aus dem Camp eingeladen wurde, habe ich die erste Stunde von Donas Workshop auf Farsi besucht. Viel verstanden habe ich dementsprechend nicht, die wichtigsten Dinge hatte sie aber für mich übersetzt.

Mit den „women empowerment“ Workshops möchte Villy für die Frauen eine Art „safe space“ schaffen. Die Frauen haben nicht die Möglichkeiten, sich professionelle psychologische Hilfe zu suchen, um das aufzuarbeiten, was sie erlebt haben und das versucht Villy auch gar nicht. Es geht eher darum, sich sicher und verstanden zu fühlen und seinen Selbstwert zu erkennen. 

Dienstag fand die Abschlusssitzung satt. Es war eine kleine Gruppe von Afghaninnen und Iranerinnen anwesend, weshalb eine Übersetzerin uns mit dem Farsi geholfen hat.

Die jüngste Teilnehmerin war 19 Jahre alt und hatte ihren eineinhalb jährigen Sohn dabei, übrigens die einzige Ausnahme, was das Geschlecht betrifft, schließlich sollen sich die Frauen ganz frei und sicher fühlen.

Zentral ging es um besonders schwierige Momente auf der Flucht, Qualitäten, die sie dadurch entwickelt haben und wie sie sich jetzt, im Gegensatz zu dem Beginn des Workshops, selbst und gegenseitig sehen.

Es fiel ihnen nicht leicht, diese Fragen zu beantworten und die Geschichten, die sie von ihrer Flucht erzählt haben, waren wirklich unfassbar: Mehrere Tage ohne Lebensmittel im Wald, alleine ohne die Familie zu fliehen bzw. vor der gewalttätigen Schwiegerfamilie zu fliehen oder einem übergriffigen Schlepper zu entkommen.

Das hat mich sehr überwältigt.

Sie alle kamen aber zu einem gemeinsamen Schluss: Durch die Flucht hat ihnen stets die Hoffnung auf ein besseres Leben für sie und ihre Familien geholfen. Sie fühlen sich jetzt stärker, unabhängiger, mutiger und vor allem genießen sie es, mehr Freiheiten und Rechte als Frauen zu haben.

Zwei von ihnen warten gerade auf ihre Reisedokumente (ihr Asylantrag wurde genehmigt) und zwei andere haben Termine, um die Dokumente zu beantragen. 

Villy und ich freuen uns sehr für sie.


Mittwoch haben wir mit den Kindern aus der Stadt Vokabeln zum Thema Gefühle besprochen, sodass sie auf die Frage „How are you?“ auch mal mehr als nur „good“ antworten können. Das hat ihnen großen Spaß gemacht.

Besprechung der Lebensmittelverteilung im Camp an einem Tisch mit Camp-Plan

Nach dem Unterricht haben sich Rouddy, Stratis, Hashmat und Christina zusammengesetzt und anhand von zwei aktuellen DIN-A4-Plänen vom Camp versucht, die Essensausgabe räumlich zu organisieren. Das sei wichtig für die Lebensmittelspender, hat uns Rouddy erzählt. Er möchte einen besseren Überblick bekommen, um auch noch mehr Menschen helfen zu können. Das stellte sich allerdings als gar nicht so einfach heraus, da viele Zelte auf den Plänen nicht erfasst werden und die Pläne generell unvollständig sind.

Arbeiten an der Website der Organisation

Max und ich haben nachmittags erneut an Texten für Rouddys Website gearbeitet und Listen und Essenskärtchen für die Ausgabe am Freitag erstellt. Ähnlich wie Dienstags soll dann jeder seine Karte vorzeigen, auf der seine Nummer, Anzahl der Personen in der Wohnung und die Daten stehen, an denen er sich das Essen abholen soll. Die Karten sind auch mit einem Stempel von „Leave No One Behind“ versehen. 

Am späten Nachmittag kamen Trisila und Mercene wieder vorbei. Obwohl es ja gar nicht die Zeit für Englischunterricht war, wollte Trisila unbedingt etwas schreiben. Ich habe dann mit ihr die kleinen Buchstaben geübt, da sie sonst immer viel in Großbuchstaben schreibt. Außerdem haben wir spielerisch auch noch einmal die Emotionen wiederholt.

Abends hatten wir wieder die griechische Tanzstunde. Dabei blieb es allerdings nicht. Hashmat hat uns afghanische Tänze gezeigt. Hier bilden die Menschen meist klatschend einen großen Kreis, in dessen Mitte immer eine Person tritt und tanzt.

Rouddy, Christian, Mercene und Trisila haben uns afrikanische Tänze beigebracht. Das hat wirklich Spaß gemacht: Viel mehr Bewegungen als beim griechischen Tanz, dementsprechend aber auch um einiges anstrengender. 

afrikanischer tanz mit den Kindern
Trisila, Mercene und Christian zeigen uns afrikanische Tänze

Am Donnerstag wollten Stratis und Rouddy mit uns unbedingt ein Foto machen, um auf der Facebook-Seite von Siniparxi zu verkünden, dass jetzt zwei deutsche Volunteers da sind, „die ihre Arbeit immer mit einem Lächeln und Professionalität erledigen“. Über die netten Worte haben wir uns sehr gefreut. Den Beitrag findet ihr hier.

Foto mit den Leitern der Organisationen
Max, Stratis, ich und Rouddy vor einer neuen Lebensmittellieferung

Heute waren auch die Kinder aus dem Camp wieder für den Englischunterricht da. Die vorherigen Tage hatten sie es nicht geschafft, aus dem Camp zu kommen, da sich die „Aufpasser“ der Kinder nicht getraut hatten, mit der Polizei im Camp zu sprechen.

Da Max und ich alleine waren, hatten wir versucht, sie nur in zwei Gruppen zu teilen. Mit den Stärkeren bin ich dann die Wochentage, Gefühle und Farben durchgegangen und Max hat versucht, den Schwächeren die Buchstaben und Zahlen beizubringen.

Sie waren allerdings sehr unruhig und unaufmerksam.

Da Rouddy zur selben Zeit ein Meeting hatte und weder Stratis, Ben oder Nazari im Office waren, hat Max auch mit diversen Leuten, die zur Organisation kamen, gesprochen, ohne ihnen viel sagen oder helfen zu können. Auch das hat den Unterricht natürlich gestört. 

Nach dem Unterricht haben wir den Kindern wieder Essen verteilt, worüber sie sich sehr gefreut hatten.

Bevor sie die Organisation verlassen haben, haben sie sich noch Winterklamotten und Spielsachen aussuchen dürfen und sind damit dann voll beladen zur Bushaltestelle gelaufen.

Den Weg dorthin haben die Kinder geordnet in Reihen beschritten, was bei dem Verkehr auch nötig war. An der Bushaltestelle haben wir ihnen noch Saft, Äpfel und Pfirsiche verteilt. Auch hier wollten einige wieder etwas für ihre Geschwister mitnehmen, dem konnten wir natürlich nicht nachkommen.
Die Busfahrten für die Kinder und deren „Aufpasser“ werden auch immer von Siniparxi bezahlt.

Workshop zum Thema Zeitmanagement in der Organisation

Nachmittags hatten wir einen Workshop zum Thema Zeitmanagement bei Dona. Als Max und ich erzählt haben, wie wir unsere Zeit organisieren, aufteilen und priorisieren, war Dona sehr beeindruckt. Sie meinte, wir seien sehr reflektiert und reif für unser Alter. Ich habe dann etwas verlegen geantwortet, dass das von der guten Bildung kommt, die wir genießen durften. Max hat mich später darauf hingewiesen, dass das vielleicht nicht der beste Kommentar war. Obwohl ich es natürlich nicht böse gemeint hatte, hatte ich Unterschiede zwischen uns und den anderen Volunteers aufgezeigt, die sie verletzen könnten. Das wollte ich nicht.

Dona hat auch erzählt, dass sie oft Geflüchtete sieht, die nur auf ihr Handy starren und dass sie sich darüber ärgert, diese zu nichts motivieren zu können. Ich habe dann überlegt, dass das aber vielleicht auch daran liegt, dass die Geflüchteten nicht glauben, dass sie die Träume, die sie eventuell haben, auch ernsthaft verwirklichen können. Das ist für Max und mich aus westlichen, privilegierten Verhältnissen ganz anders. Wir wissen, dass uns alle Türen offen stehen und dass wir unsere Träume verwirklichen können. Aber die Geflüchteten sehen ihre Möglichkeiten eben vielleicht einfach nicht…

Wir haben uns dann gemeinsam eine Geschichte zum Thema „der Wert der Zeit“ angehört, mit der Dona uns verdeutlichen wollte, wie kostbar jede einzelne Sekunde im Leben ist.

Geschichte über die "Bank der Zeit" auf einem Zettel
Geschichte „The Bank of Time“

Wir haben außerdem die Foodbags für die Lebensmittelausgabe am Freitag vorbereitet.

Säcke aus Bohnen und Reis
Reis- und Bohnensäcke für die Essensausgabe am Freitag

Freitag hat es wie aus Eimern geschüttet. Wir sind klitschnass bei der Organisation angekommen.

Ab 11 Uhr war ich mit Villy verabredet. Sie hatte mich zu der Abschlussparty ihrer Kurse eingeladen.

Deshalb habe ich nur kurz mit Trisila die Wochentage wiederholt.

Villy hat mich mit dem Auto abgeholt und hatte noch zwei andere Afghaninnen dabei. Die anderen Teilnehmerinnen sind mit zwei Taxis vom Camp abgeholt worden. 
Wir haben das „Picknick“ bei Villy zu Hause veranstaltet. Sie empfand das eigentlich als wenig professionell, hatte aber für diesen Tag keine andere räumliche Möglichkeit finden können.

Sie hat sich wirklich sehr viel Mühe gegeben und für die 13 Frauen und zwei anwesenden Kinder gebacken und Essen geholt. Ich habe mit ihr auch noch zwei Pizzen gemacht und Tee serviert. 

Zwei Frauen hatten sogar selbst etwas gekocht. Wie sie das im Camp geschafft haben, war mir wirklich ein Rätsel, aber das afghanische Essen hat sehr lecker geschmeckt. 

Alle haben sich fröhlich bedient und ausgelassen miteinander geredet. Leider konnte die Übersetzerin heute nicht kommen, da sie einen Termin für ihre Reisedokumente hatte. Marsia, eine junge Afghanin, die auch häufig bei Siniparxi ist und mit der ich hin und wieder mal Englisch spreche, hat ihre Mutter begleitet und versucht, so gut es ging zu übersetzen. Das war aber trotzdem sehr schwierig.  

Villy hat Zertifikate ausgestellt und wir haben Abschlussfotos geschossen und Videos aufgenommen, in denen einige Frauen auf Farsi erzählt haben, wie sie sich durch die Workshops verändert haben.

Außerdem haben wir zusammen getanzt: Griechisch, afghanisch und den Walzer habe ich der jungen Afghanin auch noch beigebracht. Alle haben sich riesig gefreut und viele Videos gemacht.

Zum Abschluss haben sie sich alle bei Villy für die tollen Sitzungen bedankt, Villy hat alle fest in den Arm genommen und ihnen viel Erfolg für ihre Zukunft gewünscht. Die meisten sind gerade im Prozess des Asylantrags. Für sie wird sich in Zukunft viel ändern.

In der Zwischenzeit hat Max mit Rouddy weiter seine Website überarbeitet und kistenweise Kleiderspenden in Regale einsortiert.

Ich bin mit einem Taxi zurück zur Organisation gefahren, wo wir dann die Essensausgabe gestartet haben. Aufgrund des Wetters fand diese heute drinnen statt.
Es verlief geordneter als letzte Woche, aber wir mussten trotzdem noch viele neue Leute registrieren und viele, die eigentlich auf den Listen standen, sind wieder nicht gekommen. Mit all den Resten, die wir hatten, haben wir dann für die Leute, die kamen, aber nicht auf den Listen standen, versucht, noch kleine Foodbags zu füllen. 

Liste für die Lebensmittelausgabe
Liste und Karten für die Essensausgabe

Viele haben sich darüber beschwert, dass sie nicht auf der Liste standen. Mehr anbieten als das, was wir noch übrig hatten, konnten wir ihnen aber natürlich trotzdem nicht.

Eine Frau wollte auch eine Tüte für ihre Tochter mitnehmen, die gerade in Athen war, weil ihr Kind operiert werden musste. Sie hat diese dann per Videoanruf angerufen und mir gezeigt. Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass wir ihrer Tochter nicht helfen können, wenn sie nicht hier und nicht gelistet ist. Die Situation hatte mich doch etwas überfordert…

Wir haben heute auch nur Lebensmittel an Familien mit vier bis zehn Mitgliedern ausgegeben. Viele „single moms“ sind aber trotzdem gekommen und waren sehr enttäuscht, als sie erfahren haben, das sie noch eine Woche warten müssen, um wieder einen Foodbag zu bekommen.

Einige haben sich auch noch Winterklamotten und Windeln mitgenommen.

Frauen suchen nach Kleidung in den Kleiderspenden
Ausgabe der Winterklamotten

Um 19 Uhr haben wir die Ausgabe geschlossen. Viele Foodbags sind nicht abgeholt worden. Diese Leute wurden Samstag angerufen und gebeten, die Tüten noch abzuholen.

Auch wenn wir uns viel Mühe gegeben haben, die Essensverteilung bestens zu organisieren, hat es eben doch wieder nicht einwandfrei funktioniert.
Ich zweifle allerdings daran, ob man alles überhaupt perfekt organisieren kann. Irgendwie kommt es eben doch immer anders und man muss manchmal einfach improvisieren.