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Chance und Gefahr für die Demokratie – Streitkultur auf dem Prüfstand

Im August 2021 schrieb ich diesen Artikel für das Medienunternehmen "PioneerOne Media" in Berlin.

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Um politische Debatten führt kein Weg vorbei. Sowohl im Familien- und Freundeskreis, im Fernsehen, Radio und Zeitung, als auch in den sozialen Medien, wie auf Instagram und Twitter, sind sie präsent. Ob Corona-Pandemie, Gender-Debatte, Klimawandel oder Bundestagswahl, überall stößt man auf lautstarke Positionierungen und Gegenpositionierungen. Dabei fällt auf: Politische Diskurse sind allgegenwärtig und geprägt von vielen Begleitphänomenen, wie zum Beispiel Emotionalisierung.

Streitkultur ist der Nährboden der Demokratie. Nur im Streit kann sich eine Gesellschaft definieren, sich weiterentwickeln und erfassen, was ihr politisch wichtig ist. Nur im Streit kann das Individuum seine Meinung mit der Meinung anderer abgleichen, sie überdenken und reflektieren.

Das Ziel einer Streitkultur ist eine konstruktive Auseinandersetzung, in der Menschen sich austauschen, die eigene Position mit Argumenten verstärken und offen für Meinungen Andersdenkender sind. Es muss dabei am Ende jedoch keinesfalls zu einer Einigung kommen oder in absoluter Harmonie diskutiert werden. Es geht viel eher um den Umgang mit anderen Meinungen im Streit.

Doch oft liegt die Art, wie wir streiten, fernab von der Art Streitkultur, die unserer Gesellschaft und Demokratie guttut.

Die Robert Bosch Stiftung beobachtete in einer Studie zu dem Verhältnis von Bürgern verschiedener Länder zu ihrer Demokratie aus 2021, dass 70% der Befragten öffentliche Debatten als zunehmend hasserfüllt empfinden. Dafür werden vor allem auch die sozialen Medien verantwortlich gemacht. 65% sorgen sich deshalb um die Zukunft der Demokratie.

soziale Medien schüren einen hasserfüllten Streit

Eine aktuelle Allensbach-Umfrage zur Meinungsfreiheit kommt außerdem zu dem Schluss, dass nur 45% der Befragten das Gefühl haben, ihre politische Meinung frei äußern zu dürfen. Laut Publizist und Historiker René Schlott ist dies vorschnellen Verurteilungen und der Angst vor gesellschaftlichem Ausschluss geschuldet, wie er in einem Interview bei „Deutschlandfunk Kultur“ im Juni 2021 mitteilt.

Menschen sorgen sich also wegen hasserfüllter Diskussionen um die Demokratie und Meinungsfreiheit. Diese Sorgen hemmen folglich unsere Streitkultur.

Da viele Themen im aktuellen Diskurs höchst sensibel und emotional sind, trauen sich einige Menschen aber auch erst gar nicht, ein kontroverses Thema anzusprechen. Aus Harmoniebedürftigkeit wollen sie niemandem auf die Füße treten.

Auch junge Menschen trauen sich immer weniger, Themen, die sie beschäftigen, öffentlich anzusprechen, weil diesen häufig keine Wichtigkeit zugestanden wird. Wie zum Beispiel dem Bedürfnis junger Menschen, während der Corona-Pandemie auf Partys zu gehen. Genau das äußerte auch die junge Frau Ida in einem ZDF-Interview am 18.10.2020 und es entstand eine intensive Debatte auf Twitter, ob dieses Bedürfnis im Angesicht der ernsten Corona-Lage überhaupt angemessen sei oder ob eben doch jeder Mensch individuelle Bedürfnisse wie dieses haben darf.

In aktuellen Debatten steht oft die eine Meinung diametral gegen die andere. Wie schwarz und weiß, ohne Kompromisse: 

Geschlechtergerechte Sprache wird zum Einen als neo-feministische Forderung gesehen, die dem männlichen Patriarchat den Boden unter den Füßen wegziehen will oder auf der anderen Seite als einziges Mittel, um die finale Gleichheit der Geschlechter durchzusetzen.

Teilnehmende der Querdenken-Bewegung sehen ein unfreies Land, in dem demokratische Werte nicht mehr gelten und sich selbst in der Verantwortung, Deutschland dies vor Augen zu führen. Auf der anderen Seite wird die Querdenken-Bewegung von Kritikübenden als Verschwörungsideologie ungebildeter Menschen verurteilt.

Querdenken-Bewegung richtet sich gegen die von der Regierung beschlossenen Corona-Maßnahmen und sieht die Demokratie stark gefährdet (hier sogar ähnlich wie zur Zeit des NS-Regimes)

Proteste, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen, sind in manchen Augen der einzige Weg, die Welt vor dem Untergang zu retten, oder andererseits der Ausdruck purer Luxussorgen. 

In der Fridays for Future-Bewegung machen überwiegend junge Menschen auf die Gefahr des Klimawandels und fehlende Handlung der Politiker aufmerksam

Sensible Themen wie diese führen oft zu einer Emotionalisierung und Personalisierung der Streitthemen. Daraus folgt ein Mangel an Empathie, Respekt, Verantwortung, Toleranz und Selbstreflexion, welche eine gesunde Streitkultur prägen.

„Ich denke, der größte Fehler ist ein Haltungsfehler– dass man das Streiten als Kampf ansieht, nicht als einen kooperativen Prozess, bei dem es um Erkenntnisgewinnung und Austausch geht“, erklärt David Lanius, der Gründer und Leiter des Forums für Streitkultur, in einem Interview aus dem Buch „Kritik üben“ von Friedrich von Borries und Jakob Schrenk aus 2018.

Er sieht die Grundvoraussetzung für eine konstruktive Auseinandersetzung darin, dass der Mensch bereit sein muss, zu verstehen, was sein Gegenüber bewegt, eben empathiefähig zu sein. Allein diese Voraussetzung ist nicht immer gegeben, weil Menschen sich zu häufig im absoluten Recht sehen.

Ein weiteres Kriterium „guter“ Streitkultur ist ein respektvoller Umgang miteinander in Debatten. Hier gilt vor allem die Gleichheit der Meinungsrelevanz. Keine Meinung ist mehr wert als die andere. Und in einer Demokratie hat jede Meinung das Recht, gehört zu werden, solange sie nicht die rote Linie überschreitet. Diese Linie wird aus dem Recht der persönlichen Ehre und den „allgemeinen Gesetzen“, die die Meinungsfreiheit eingrenzen, gebildet. Wie zum Beispiel Vorschriften aus dem Strafgesetzbuch, die Beleidigungen, üble Nachrede, Volksverhetzung und Bedrohung betreffen. Auch das bewusste Verbreiten von unwahren Tatsachenbehauptungen ist Teil der roten Linie.

Im Endeffekt ist jede Perspektive, die diese Linie nicht überschreitet, eine Bereicherung für den allgemeinen Diskurs, da sich so auf allen möglichen Ebenen mit einem Thema auseinandergesetzt wird, meint auch David Lanius.

Das Gesetz entscheidet also, welche Meinung bedrohlich ist. Was der Mensch persönlich für bereichernd in seinen eigenen Diskussionen hält, muss er jedoch selbst entscheiden.

Einstellungen Andersdenkender zu belächeln oder gar zu ignorieren ist aber dennoch kein Ausdruck von Gleichheit und Respekt.

Ein auch der Digitalisierung geschuldetes Problem für eine konstruktive Streitkultur ist das Verweilen in der eigenen Bubble. Nicht nur im persönlichen Umfeld umgibt sich der Mensch gerne mit Personen, die eine ähnliche Meinung teilen. Auch im Internet werden Inhalte auf die Interessen jedes Einzelnen per Algorithmus zugeschnitten. Dieser ist dabei so programmiert, Inhalte anzuzeigen, die dem Nutzenden gefallen könnten. Wie zum Beispiel Beiträge von Bekannten, Beiträge, die zu den registrierten Interessen passen, wie Kochen, Backen oder Politik und Gesellschaft oder aber Beiträge mit vielen Likes und Kommentaren. Das bringt jedoch mit sich, dass Inhalte, die nicht zu den eigenen Interessen passen und mehrfach ignoriert werden, nicht mehr angezeigt werden.

Algorithmen in sozialen Netzwerken sorgen für optimal auf den Nutzenden zugeschnittene Inhalte

Dieser Algorithmus soll das Verweilen auf dem Medium interessanter und ansprechender machen. Auch können sich Werbetreibende zielgerichteter an potenziell Interessierte wenden.

Bei dem Versuch, die vorgeschlagenen Beiträge zu personalisieren, entstehen allerdings die sogenannten Filterblasen und Echokammern. Sie birgen die Gefahr, dass Themen nur einseitig erfasst werden, weil der Algorithmus nur das anzeigt, was den Nutzenden potenziell interessieren könnte.

Bezogen auf Diskurse kann der Mensch so das Gefühl bekommen, er habe ein Thema vielseitig gesichtet, da er viele Beiträge gelesen hat. Dass diese aber teilweise nur die eigene Meinung abbilden, weil die eben das ist, was der Algorithmus als potenziell interessant einstuft oder Beiträge Andersdenkender ignoriert werden, fällt oft nicht auf.

Dabei ist vielseitige Sachkunde in dem Streitgebiet Voraussetzung für einen fruchtbaren Streit, um auf verschiedene Perspektiven eingehen zu können.

Ein weiterer Punkt ist die Verantwortung. Zwar herrscht in Deutschland Meinungsfreiheit, was sich vor allem darin zeigt, dass es überhaupt öffentliche Diskurse gibt, denn Streit bedeutet letztendlich Freiheit. Allerdings müssen die Sprechenden trotzdem die Verantwortung für den Inhalt des Gesagten übernehmen. Das ist die versteckte Bedingung der Meinungsfreiheit. Sie müssen Kritik und Ablehnung ertragen können und dürfen sich nicht unmittelbar verurteilt fühlen. Dafür müssen wir auch als Gesellschaft aufhören, uns gegenseitig vorschnell zu be- und verurteilen.

An vielen Stellen fehlt auch die Akzeptanz, eine andere Meinung zuzulassen. Nicht immer kann und muss der Gegenüber eines Besseren belehrt oder alles haargenau ausdiskutiert werden. Auch das Selbsteingeständnis, doch nicht richtig zu liegen und dem Gegenüber recht zu geben, ist eine wichtige Fähigkeit. Wer nicht erkennt, wann Kompromisse einzugehen sind und stattdessen die eigene Meinung dem Streitpartner zwanghaft aufdrücken will, sucht nach Selbstgerechtigkeit statt nach der Gerechtigkeit im öffentlichen Diskurs.

Nach einer Auseinandersetzung folgt oft zu wenig Selbstreflexion. Menschen neigen dazu, mehr darüber nachzudenken, was sie besser hätten sagen können, um überzeugender zu wirken, statt darüber, wie sie als Streitpartner kooperativer hätten handeln können.

Die Öffentlichkeit zeigt sich in ihrem Streitverhalten auch nicht immer vorbildlich, was unter anderem in den TV-Triellen der drei Kanzlerkandidaten während des Bundestagswahlkampf 2021 erkennbar war. In der Politik werden selten Fehler, Niederlagen oder falsche Meinungen eingeräumt. Nicht alle Ansichten werden zugelassen und einige Diskussionen bestehen fast ausschließlich aus Wortunterbrechungen, Rechtfertigungen und kategorischen Ablehnungen.

der Bundestagswahlkampf zeichnete ein Bild von einer Streitkultur, in der nur selten Fehler zugegeben werden und den Gegnern ungern Recht gegeben wird

Aber auch die Medien leisten oft kontraproduktive Beiträge zu einer zielführenden Streitkultur. Diskurse werden hier aufmerksamkeitsheischend skandalisiert, statt deeskaliert. Das erkennt auch die Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft Berlin in einem Aufsatz zu wandelnder Streitkultur von 2015.

Eine Skandalisierung in Streitgesprächen greift auch die Bevölkerung vermehrt auf. Einem gewinnbringenden Streit wird dadurch allerdings die Bühne genommen.

Es ist wichtig, dass die Gesellschaft das Gespräch sucht. Allerdings muss die Streitkultur gewissen Kriterien gerecht werden, um die Stabilität der Demokratie zu schützen.

Dies wird in einem 2019 bei der Konrad Adenauer Stiftung erschienenen Beitrag zum Thema Sprach- und Streitkultur gefordert. Auch wird erklärt, dass die Weiterentwicklung der Streitkultur selbst eine stetige Auseinandersetzung über ihre Ziele für demokratische Diskurse benötigt.

Damit Streit und Diskussion nicht mehr lähmend, sondern bereichernd auf unsere Gesellschaft und Demokratie wirken, müssen wir also die Art, wie wir streiten, dringend neu definieren und leben. Denn wenn Streit Demokratie befähigt, müssen unsere demokratischen Werte auch unsere Streitkultur befähigen. Und da haben wir noch einiges an Diskussionsbedarf.

1 Kommentar

  1. Gelassenheit fehlt uns hier in Deutschland. Eine politische Meinung offen sagen zu dürfen, Da können wir mehr voneinander lernen, statt schweigend sich seinen Teil zu denken.
    Da lob ich mir ja die griechische Kultur. Hier sitzen alle am Tisch und alle reden offen über die Partei, die sie wählen und warum man sie gewählt hat/wählen wird.
    Ach …und übrigens: das gleich gilt auch für das Thema Geld/Finanzen. Wo man da ganz offen und konstruktiv damit umgeht, weiss ich allerdings nicht…:-)

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